Krisen-Call zu Zöllen mit der Autoindustrie
Was Deutschlands neue Rolle im Welthandel bedeutet – verständlich, relevant, auf den Punkt. Von ROMANUS OTTE Mit LAURA HÜLSEMANN, JÜRGEN KLÖCKNER und TOM SCHMIDTGEN Im Browser anzeigen oder hier anhören. — Vor Merz’ Reise in die USA drängen Spitzen der Autoindustrie in Schalte mit Reiche und Šefčovič auf Zoll-Frieden. — Die Koalition will offenbar daran […]
Was Deutschlands neue Rolle im Welthandel bedeutet – verständlich, relevant, auf den Punkt.
![]() |
Von ROMANUS OTTE
Mit LAURA HÜLSEMANN, JÜRGEN KLÖCKNER und TOM SCHMIDTGEN
— Vor Merz’ Reise in die USA drängen Spitzen der Autoindustrie in Schalte mit Reiche und Šefčovič auf Zoll-Frieden.
— Die Koalition will offenbar daran festhalten, die Turbo-Abschreibungen erst ab Juli — und damit später als geplant — gelten zu lassen.
— Neue, scharfe Russland-Sanktionen werden konkreter — unter anderem zu Nord Stream 2.
Willkommen bei Industrie und Handel — und zu unserer Premiere!
Senden Sie Tipps und Feedback an rotte@politico.eu, tschmidtgen@politico.eu, lhulsemann@politico.eu, tmumme@politico.eu und jkloeckner@politico.eu.
Oder folgen Sie uns auf X:@TommesFrittes, @HulsemannLaura, @ThorstenMumme & @herrkloeckner
THEMA DES TAGES |
KRISEN-CALL: Vor Merz’ Reise nach Washington haben die Spitzen der deutschen Autobranche ihre Anliegen im Zollkonflikt an höchster Stelle adressiert.
Am Montagabend tauschten sich Vertreter von Herstellern und Zulieferern in einer rund einstündigen Schalte mit Wirtschaftsministerin Katherina Reiche und EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič aus, erfuhr Jürgen Klöckner aus Regierungskreisen.
Denn: Bislang ist nicht geplant, dass Wirtschaftsbosse mit Merz diese Woche nach DC fliegen, was in der Industrie für Unmut sorgt.
Botschaft an Merz: „Alle Kräfte müssen verwendet werden, um eine politische Einigung zu finden“, sagte VDA-Chefin Hildegard Müller zu Laura Hülsemann. Ein „umfassendes Freihandelsabkommen“ sei das Ziel.
Hintergrund: Die USA sind für deutsche Autohersteller der wichtigste Exportmarkt. 2024 lieferten VW, BMW, Mercedes und andere knapp 450.000 Autos in die USA. Das waren 13 Prozent aller Exporte.
Eine Zoll-Spirale würde sie doppelt treffen: durch die Zölle der USA auf Auto-Importe aus der EU und durch die Gegenzölle anderer Länder auf Auto-Importe aus den USA.
Favorisiertes Modell: die Exportverrechnung. Wie das Handelsblatt berichtete, hatten die CEOs von BMW und Mercedes sowie der Nordamerika-Chef von VW die Idee der US-Regierung Ende April vorgestellt. Dabei würden die Importe der deutschen Hersteller in die USA mit ihren Exporten aus ihren US-Fabriken verrechnet.
Mehr dazu hier.
BONJOUR, KATHERINA: Die Branche erwartet, dass Reiche heute auch auf ihrer Paris-Reise für ihre Interessen trommelt. Dort beginnt der zweitägige OECD-Ministerrat, am Mittwoch kommen in der Stadt die G7-Handelsminister mit Šefčovič zusammen.
Reiche will unter anderem mit dem US-Handelsbeauftragten Jamieson Greer sprechen, wie es aus Ministeriumskreisen heißt. Die OECD sind eines der letzten multilateralen Foren, an denen Europäer und Asiaten mit den USA an einem Tisch sitzen.
Trump will am 9. Juli Zölle von bis zu 50 Prozent auf alle EU-Waren einführen. Um dies abzuwenden, reiste gestern ein Verhandlungsteam aus Brüssel nach Washington. Beide Seiten wollen „das Tempo der Gespräche beschleunigen“, sagte ein Kommissions-Sprecher.
Brüssel arbeitet aber auch an einer Reihe von Gegenmaßnahmen. Falls es nicht zur Einigung kommt, würden diese ab dem 14. Juli greifen.
USA drängeln: Wie Reuters in der Nacht zu Dienstag aus einem Briefentwurf berichtet, will DC von den Ländern verlangen, dass sie bis Mittwoch ihr bestes Angebot für die Handelsverhandlungen vorlegen. Gleichzeitig sollen die Gespräche innerhalb einer Frist von nur fünf Wochen abgeschlossen werden.
ABSCHREIBUNGEN |
IN VERZUG: Die Koalition will offenbar daran festhalten, die für Unternehmen geplanten degressiven Abschreibungen von 30 Prozent erst ab Juli gelten zu lassen, wie Tom Schmidtgen aus der Spitze der Unionsfraktion hört.
Der Investitions-Booster ist Kernelement in dem am Wochenende bekannt gewordenen Referentenentwurf für ein Entlastungsgesetz von Finanzminister Lars Klingbeil. Am Mittwoch soll es ins Kabinett kommen.
Im Koalitionsvertrag hieß es noch, dass die Abschreibungen rückwirkend für das gesamte Jahr gelten sollen, was von Unternehmens- und Wirtschaftsverbänden begrüßt wurde. Kanzler Merz wiederholte das Ziel vor wenigen Tagen in der ARD.
Lob von den Grünen: Was Merz versprochen hatte, „wäre Unsinn gewesen, denn Investitionsanreize funktionieren natürlich nur in die Zukunft und nicht rückwirkend“, sagte die finanzpolitische Sprecherin Katharina Beck.
Der spätere Beginn sei „einer der eher guten Aspekte der Vorlage“. Beck fordert statt der Abschreibungen aber eine staatliche Investitionsprämie.
Der BDI ist zufrieden, dass jetzt schnell etwas kommt und stört sich nicht an dem halben Jahr. „Dass die verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen noch vor der Sommerpause beschlossen werden sollen, ist positiv“, sagte Verbandschefin Tanja Gönner zu Romanus Otte.
SANKTIONEN |
NEUER DRUCK AUF RUSSLAND: Merz traf am Montag US-Senator Lindsey Graham, um über das nächste Sanktionspaket gegen Russland zu sprechen.
Es soll schnell gehen: Die Botschafter der EU-Länder könnten die Maßnahmen — es wäre das 18. Sanktionspaket — bereits am Mittwoch in Brüssel besprechen, wie mein Kollege Hans von der Burchard in Brüssel hört.
Nach dem Treffen mit Merz zeigt sich Graham entschlossen. In den Tagesthemen sagte er: „Es ist jetzt an der Zeit, Putin zu bestrafen.“ Das neue Paket werde erdrückend sein. „Und ich erwarte, dass Präsident Trump nun zu einer anderen Taktik übergeht, da klar ist, dass Putin keinen Frieden will.“
Grahams’ Plan: Er will kommende Woche im US-Senat einen eigenen Gesetzentwurf für scharfe Russland-Sanktionen einbringen. Es geht um bis zu 500 Prozent US-Zölle für Drittstaaten, die russische Exporte wie Öl oder Gas kaufen.
Die Preisgrenze der G7 für russisches Öl will Graham von 60 auf 45 US-Dollar pro Barrel senken. Daran wären alle westlichen Firmen und Reedereien gebunden. Im Auswärtigen Amt hält man eine Absenkung des Ölpreisdeckels für „denkbar“, wie meine Kollegin Nette Nöstlinger hört.
Merz fordert außerdem das Nord-Stream-Aus. Er werde dies auch bei seinem Besuch bei Trump vertreten, sagte ein Regierungssprecher.
In manchen deutschen Chefetagen ist eine spätere Rückkehr zu günstigem russischen Gas und eine Reparatur der zerstörten Pipeline immer noch Thema. Sollte die Nord Stream AG sanktioniert werden, wäre diese Hoffnung zunächst dahin.
Mit Blick auf den Bankensektor steht im Raum, mehr als 20 Banken vom internationalen Zahlungsverkehrssystem (SWIFT) auszuschließen. Das SWIFT-System legt die Standards für Transaktionen zwischen Banken fest. Eine Trennung von SWIFT bedeutet, dass man vom globalen Zahlungssystem abgeschnitten wird.
Brisant: Trump selbst blickt skeptisch auf die harten Sanktionen. Graham hat bereits 82 Unterstützer für sein Paket im Senat, womit er theoretisch ein Trump-Veto gegen die Sanktionen überstimmen könnte.
Trump spricht mit Xi: Ein Telefonat sei möglich, sagte Trumps Sprecherin Karoline Leavitt. Beide Ländern überziehen sich mit Zöllen, und China ist einer der größten Ölkunden Russlands.
GASKRAFTWERKE |
STERN DES SÜDENS: Zwei Drittel der geplanten deutschen Reserve-Gaskraftwerke sollen im Süden der Republik gebaut werden. Das kündigte Wirtschaftsministerin Katherina Reiche bei einer Klausurtagung der bayerischen Landesregierung in Gmund am Tegernsee an.
Neue Gaskraftwerke mit einer Leistung von bis zu 20 Gigawatt will die Koalition ausschreiben. „Wir planen einen Süd-Bonus, damit zwei Drittel der insgesamt ausgeschriebenen Kapazitäten im netztechnischen Süden gebaut werden“, sagte Reiche vor Journalisten nach dem Treffen.
Damit dürften 13,33 Gigawatt in Bayern und Baden-Württemberg entstehen. Hintergrund ist der Netzengpass zwischen Nord und Süd: Im Norden wird durch Wind mehr Strom produziert als benötigt, im Süden mit energieintensiven Industrien mehr verbraucht. Mehr hier.
RÜSTUNGSINDUSTRIE |
DEUTSCHLAND FIRST: Das Verteidigungsministerium nutzt vermehrt Ausnahmeregeln der EU, um Rüstungsaufträge ohne europaweite Ausschreibung an deutsche Unternehmen zu vergeben. Das geht aus einem Regierungsbericht hervor, den mein Kollege Chris Lunday einsehen konnte.
Der Mechanismus: Minister Boris Pistorius nutzt Artikel 346 AEUV — eine EU-Ausnahme, die es Mitgliedstaaten erlaubt, die gemeinsamen Beschaffungsregeln aus Gründen der nationalen Sicherheit zu umgehen.
Deutsche Aufträge fast verdoppelt: Die Zahl der Aufträge, die mit dieser Ausnahme vergeben wurden, stieg von 31 im Jahr 2022 auf 60 im Jahr 2023 — bis September 2024 waren es bereits 54. Mehr dazu hier.
SOZIALABGABEN |
WENIGER NETTO: Acht gesetzliche Krankenkassen (GKV) haben im Laufe des Jahres ihre Zusatzbeiträge angehoben, zum 1. Juli sollen weitere sechs folgen, berichtet Rasmus Buchsteiner unter Berufung auf Zahlen des GKV-Spitzenverbands.
Doom-Szenario: Susanne Wagenmann, GKV-Verwaltungsratschefin, pocht auf Soforthilfen. „Weiter steigende Beiträge wären Gift für die Wirtschaft“, sagte sie Journalisten. Die wahrscheinlichste Variante ist wohl, dass der Bund bald mit einem Milliarden-Darlehen einspringt.
Sparen? Kürzen? Streichen? Mit konkreten Ideen hält sich die GKV-Spitze zurück. Genauso wie Gesundheitsministerin Nina Warken. Mehr dazu hier.
WEITERE NEWS |
— WENIGER IST MEHR: Eigentlich müssen Unternehmensgründer monatlich ihre Umsatzsteuer-Voranmeldung beim Finanzamt abgeben. Diese Pflicht wurde vorübergehend ausgesetzt, um den Effekt zu evaluieren. Ein Dokument, das Jürgen Klöckner vorliegt, zeigt, dass Gründer von den vereinfachten Vorgaben profitiert haben.
— EU GEGEN TEMU UND SHEIN: Europaabgeordnete stützen die Pläne der EU-Kommission, die Flut chinesischer Billigwaren einzudämmen. Das geht aus einem Entwurf des Parlaments hervor, der meinem Kollegen Mathieu Pollet vorliegt. Die Kommission will eine Gebühr von zwei Euro für Pakete unter der Zollschwelle von 150 Euro erheben. Langfristig soll die Zollbefreiung abgeschafft werden. Der Beschluss, der auf Händler wie Shein und Temu zielt, ist für Ende Juni geplant. Mehr dazu hier.
— WENIGER GESCHÄFT MIT ROBOTIK: 2025 erwartet die Branche einen Rückgang des Umsatzes um zehn Prozent auf 14,5 Milliarden Euro, teilte der Verband VDMA Robotik + Automation mit. Grund seien verschobene Investitionen wegen Trumps Zollpolitik und Konkurrenz aus Asien. „Die Wachstumsaussichten sind bis zum Ende des Jahres in allen Teilbranchen eingetrübt“, sagte der Vorsitzende Dietmar Ley.
HEUTE WICHTIG |
— OECD-Wirtschaftsausblick: Um 9 Uhr stellt die Industrieländerorganisation ihre Konjunkturprognose vor. Deutschland schnitt zuletzt so schlecht ab, wie kein anderes OECD-Mitglied.
— Außenwirtschaftstag Agrar- und Ernährungswirtschaft: Außenminister Johann Wadephul eröffnet um 9:30 Uhr die Veranstaltung. Um 10 Uhr spricht Agrarminister Alois Rainer.
—„Battery Show Europe“: Von heute bis Donnerstag findet Europas größte Fachmesse für fortschrittliche Batterietechnologie in Stuttgart statt.
— Ministerin Reiche ist auf Antrittsbesuch in Paris — mehr dazu im Thema des Tages.
Das war Industrie und Handel — das Wirtschaftsbriefing von POLITICO. Vielen Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!
What's Your Reaction?






